2022-08-21 16:40:58
Tiere im Märchen
Das Wunderbare ist im Zaubermärchen allgegenwärtig: Es erscheinen liebliche Naturgeister und mächtige Elementarwesen, bösartige Hexen und holde Zauberinnen, Berge werden lebendig und Pflanzen können sprechen. Alle Dinge besitzen spirituelle Kraft; die Phänomene der Natur verfügen über menschliche oder auch übermenschliche Fähigkeiten. Die Welt der Zaubermärchen ist animistisch („allbeseelt“), eine archaische Weltanschauung, die bis in paläolithische Vorzeit zurückreicht.
Als Protagonisten zahlreicher Zaubermärchen erscheinen Tiere: Wölfe, Füchse und Bären, Adler, Krähen und Eulen, Ziegen, Kühe und Esel, Frösche, Kröten und Unken, und so weiter. Es handelt sich um vormoderne Überlieferungen aus der Zeit der ersten Viehzüchter, Hirten und Jäger, die im Einvernehmen mit der Umwelt lebten und ein inniges Verhältnis zu der Fauna pflegten.
Das Tiermärchen stellt ein eigenes folkloristisches Genre dar, welches sich von der Fabel in welcher gleichfalls personifizierte Tiere auftreten - unterscheiden lässt: Tiermärchen erscheinen anonym, wohingegen sich die Fabel oft auf einen Autor zurückführen lässt, etwa Aesop. Außerdem endet die Fabel mit einer Moral, einer pädagogischen Lehre, auf die das Tiermärchen verzichtet.
In zahlreichen Zaubermärchen findet außerdem eine Verwandlung vom Menschen zum Tier statt: Im Märchen Jorinde und Joringel (KHM 69) verirren sich zwei Kinder im tiefen Zauberwald und werden von einer Hexe gefangen genommen, die Jorinde in einen Vogel verwandelt. In dem Märchen Brüderchen und Schwesterchen wird Brüderchen durch einen Zaubertrank in ein Reh verwandelt und das Märchen Die sieben Raben handelt von der Verwandlung in Raben.
Indes lässt sich die Tierverwandlung bis in die Steinzeit zurückverfolgen: Schon die ältesten Kunstwerke der Menschheit, die sogenannten paläolithischen Kleinkunstwerke stellen Mischwesen aus Mensch und Tier dar, etwa der „Löwenmensch“ von der Schwäbischen Alb (ca. 40.000 Jahre alt). Auch die weltberühmten Höhlenmalereien stellen Menschen dar, die sich in Tiere verwandelt haben, etwa der „gehörnte Gott“ oder der „Hexenmeister mit dem Mundbogen“ aus der Drei-Brüder-Höhle (ca. 15.000 Jahre alt). Dabei ist man sich einig, dass es sich um die künstlerische Darstellung von Schamanen handelt, die sich aus rituellen Gründen in die Felle ihrer Krafttiere gehüllt haben (äußerliche Verwandlung) und im Geist zum Tier werden (innere Verwandlung).
Die archaische Vorstellung, die in den Tiermenschmärchen überliefert ist, nennt sich Totemismus, das ist die Weltanschauung, nach der Menschen und Tiere miteinander verwandt sind und ein jeder Mensch ein Leben lang von einem metaphysischen Seelentier begleitet und beschützt wird. Im außergewöhnlichen Bewusstseinszustand identifizieren sie sich miteinander und es entsteht ein Werwolf, Hirschmensch oder Geißweiblein, eine Katzenfrau, ein Vogelmann und eine Meerjungfrau,
Auch die alten europäischen Kulturen waren toternistisch, z. B. die Germanen. Davon zeugen noch die deutschen Vornamen Wolfgang („Wolf"), Eberhardt („Eber‘) und Bernhard („Bär“). Das Totem wurde bei den Germanen Fylgja genannt („Folgeseele‘) und erscheint in Begleitung der Götter (Wotan mit den Raben, Freyja mit den Katzen, Donar mit den Böcken usw.), die Verwandlung in Tiere ist bestens bezeugt (man denke nur an Odins Raub des Dichtermets ın Gestalt des Adlers). Es gibt die Überlieferung, dass sich die Germanen zu gewissen Zeiten das Fell von Bären anlegten, um die Kraft und Eigenschaften dieses mächtigen Tieres auf sich zu übertragen; so wurden sıe zu Bärenkriegern im Gefolge Odins. Die allgemeine altnordische Bezeichnung für diese Bärenmenschen lautet Berserker, das heißt wörtlich „Bärenhäuter“.
„Bärenhäuter“ ist nun aber auch der Titel eines grimmschen Märchens, Der Bärenhäuter (KHM 101), in dem ein vagabundierender Soldat — „auf einer großen Heide, auf der nichts zu sehen war als ein Ring von Bäumen“ — Besuch bekommt von einem „unbekannten Mann, der einen grünen Rock trug, recht stattlich aussah, aber einen garstigen Pferdefuß hatte“.
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