2022-07-30 03:08:28
Das Christentum – eine Religion der Gewalt?
Bereits 1986 war der erste von zehn Bänden einer „Kriminalgeschichte des Christentums“ erschienen. Die darin von Karlheinz Deschner aufgelisteten Verfehlungen von Christen erregten weniger deshalb Aufsehen, weil sie zuvor unbekannt waren. Provokant erschien vielmehr seine These, wonach Christen in den zwei Jahrtausenden der Kirchengeschichte das im Neuen Testament begründete Ideal und Selbstverständnis des Christentums als einer Religion der Liebe und des Friedens nicht nur gelegentlich und ausnahmsweise, sondern ständig verfehlt hatten. Denn Christen hätten nicht nur im Rahmen der Kreuzzüge, der Inquisition oder der Hexenverfolgungen Gewalt ausgeübt, sondern auch in zahllosen weniger spektakulären Zusammenhängen.
An Deschners monumentale „Kriminalgeschichte“ erinnert das 2015 erschienene Buch von Philippe Buc: „Heiliger Krieg. Gewalt im Namen des Christentums“. Der derzeit in Wien lehrende französische Historiker schlägt darin bisweilen atemberaubende Bögen von frühchristlichen Märtyrern über die Kreuzzüge bis hin zum Terror der „Rote-Armee-Fraktion“ und zu George W. Bush. Mit Blick auf die zweitausendjährige Geschichte des Christentums will er unter anderem zeigen, wie sehr sich aggressive Aktionen westlicher Staaten „dem Einfluss tiefsitzender christlicher Ideen von Freiheit, Reinheit, Universalismus, Märtyrertum und Geschichte verdanken, die noch bis vor kurzem in Westeuropa vorherrschend waren“. Hilfreich für das Verständnis des ebenso kenntnisreichen wie herausfordernden Buches ist eine Präzisierung, die Buc in einem Interview vorgenommen hat: „Meine Fragestellung ist nicht, ob das Christentum Gewalt verursacht, sondern eher, wie das Christentum die Formen der Gewalt prägt.“
Dabei geht es Buc auch um christliche Konzepte, die „den Weg in die Moderne überstanden haben, indem sie sich in Ideen und Ideologien verwandelten, die ohne das Übernatürliche und Gott auskamen, aber vergleichbare Strukturen beibehielten“. Mit Blick auf die Frage, wie solche Säkularisate heutige Formen von Gewalt prägen, kommt Buc nicht umhin, dem Christentum eine dualistische bzw. manichäistische Weltsicht zu unterstellen, wonach die Wirklichkeit in Gut und Böse unterschieden ist.
Tatsächlich wurden in der Geschichte des Christentums zur Legitimation von Gewalt vorrangig solche biblische Texte rezipiert, die dualistische Tendenzen aufweisen. Bis in die jüngste Vergangenheit wurden das Johannesevangelium und mehr noch die Offenbarung des Johannes immer wieder dahingehend beansprucht, kriegerisches Vorgehen oder Gewalt gegen politische Feinde und Andersgläubige zu rechtfertigen. Im apokalyptischen Kampf gegen den Satan oder das „Reich des Bösen“ schien – und scheint – nahezu jedes Mittel erlaubt.
Zweifellos kennt das NT eine Metaphorik des Kampfes – etwa wenn es um die Standhaftigkeit im Glauben geht. Und nicht zu bestreiten sind Tendenzen in frühchristlichen Märtyrerakten, die jeweiligen Peiniger herabzusetzen, sie bisweilen gar zu dämonisieren. Buc scheint aber den paränetischen Charakter der einschlägigen Texte ebenso zu übersehen, wie er die allegorischen Auslegungen beispielsweise des Buches Josua durch die Kirchenväter gegen deren Intention als Anstiftung zur Gewalt interpretiert.
Kritische Anmerkungen wie diese setzen sich freilich rasch dem Verdacht aus, christliche Apologetik betreiben zu wollen. Umgekehrt fällt es schon auf, dass Buc die Forschungen des international renommierten Münsteraner Kirchenhistorikers Arnold Angenendt zum Verhältnis von Christentum und Gewalt nirgendwo erwähnt. Angenendt bemüht sich in seiner voluminösen Monografie „Toleranz und Gewalt“ unter anderem darum, gewaltsame Vorgänge in der Geschichte des Christentums historisch zu kontextualisieren. Mit Blick auf die Inquisition und auf die Hexenverfolgungen der Frühen Neuzeit gelangt er so zu überraschenden Einsichten, die oft gängige Klischees widerlegen. Im Gegensatz zu Buc betont Angenendt die deeskalierenden und pazifizierenden Traditionen des Christentums.
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