2021-10-09 08:23:35
Wie vorhin der abendländischen Welt niemand mehr an der Stelle
befindet sich im gegenwärtigen Zustand die ihm auf Grund seiner Eigenart ordnungsgemäß zukommt; das meint man, wenn man sagt die Kasten seien verschwunden, denn die Kaste, in ihrem echten überlieferungstreuen Sinn verstanden, ist nichts anderes als die eigentümliche Natur der Menschen, mit all ihren besondern Anlagen, die einen jeden zur Erfüllung dieser oder jener bestimmten Aufgabe von vornherein geeignet machen. Sobald der Zugang zu irgendwelchen Tätigkeiten keiner gültigen Regel mehr untersteht, folgt daraus unvermeidlich, daß ein jeder sich bewogen fühlt, das erste beste zu tun und oft das, wozu er am wenigsten befähigt ist; die Rolle, die er in der Gesellschaft zu spielen hat, ist dann zwar nicht durch den Zufall bestimmt, den es in Wirklichkeit nicht gibt1, sondern durch eine mit Zufall leicht verwechselbare Verwicklung von allerlei unwesentlichen Umständen; am schwächsten beteiligt ist hierbei gerade der Beweggrund, der in solchem Fall einzig gelten sollte, nämlich die natürliche Verschiedenheit der Menschen. Die Ursache für die ganze Mißordnung liegt im Leugnen eben dieser Unterschiedlichkeit, woraus sich wiederum das Verwerfen jeglicher gesellschaftlichen Stufung ergibt. Diese Ablehnung, die zu Anfang vielleicht kaum bewußt und mehr tatsächlich als vorbedacht war denn erst verwirrten sich die Kasten und dann hob man sie völlig auf, oder anders ausgedrückt: erst irrte man sich in der eigentümlichen Natur der Menschen, und dann kam man dazu, auf sie keinerlei Rücksicht mehr zu nehmen —, diese Ablehnung der natürlichen Unterschiede also erhob man in neuerer Zeit zu einem Scheingrundsatz und nannte sie »Gleichheit«. Nur zu leicht wäre zu zeigen, daß Gleichheit nirgends möglich ist, aus dem einfachen Grund, weil es nicht zwei Wesen geben kann, die wirklich zu unterscheiden und zugleich in jeder Beziehung von gänzlich gleicher Art sind; ebenso leicht wären auch alle die ungereimten Folvorzuschreiben sich anmaßt, so zum Beispiel, wenn man allen Weisen angebracht wären. Es wäre übrigens die Frage aufzu werfen, ob es sich in Wahrheit nicht viel eher um ein »Lernen« als um ein »Begreifen« handelt, das heißt, ob an die Stelle des Geistes nicht das Gedächtnis gesetzt wird, bei der ganz wort befangenen und papierenen Auffassung des heutigen Unterrichts, der es bloß auf Häufung oberflächlicher und unzusammenhängender Kenntnisse absieht und die Güte völlig der Menge opfert; ein Vorgang nämlich, der sich in der Neuzeit überall vollzieht, und zwar aus Gründen, die wir nachher eingehender erläutern wollen, und der ebenfalls Zersplitterung in die Vielfalt darstellt. Sehr viel würde bei dieser Gelegenheit über die Fehlgriffe des »Schulzwanges« zu sagen sein. Aber hier ist nicht der gegebene Ort dazu; falls wir den einmal gesteckten Rahmen nicht überschreiten wollen, müssen wir uns damit begnügen, im Vorbeigehn auf diese aus den »gleichmacherischen« Anschauungen sich ergebende besondere Folge hinzuweisen als auf einen jener Verwirrung stiftenden Gründe, die heutzutage zu zahlreich sind, als daß wir sie alle ohne Ausnahme aufzuzählen vermöchten.
René Guénon, «Die Krisis der Neuzeit»
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