2021-11-04 21:39:08
Rocco Burggraf :
Woher die Gräben kommen
Es ist ein Aha-Effekt - Gläubige würden vielleicht von Offenbarung sprechen - wenn man viele unerklärliche gesellschaftliche Entwicklungen plötzlich in einen schlüssigen Zusammenhang gerückt sieht. Für einen solchen Augenblick hat bei mir kürzlich das am Ende verlinkte Gespräch des Buchautors und Künstlers Raymond Unger mit Gunnar Kaiser gesorgt.
Wahrscheinlich kennen wir alle den Moment, in dem sich Familienmitglieder, langjährige Freunde, vertraute Kollegen, Menschen, mit denen man sich jahrelang eng verbunden fühlte, sich plötzlich wie aus dem Nichts mitten im Gespräch abwenden, empört reagieren, die Contenance verlieren, den Raum verlassen oder gar die Freundschaft aufkündigen. Was ist passiert?
Sicher - irgendetwas hat sie verletzt und im Innersten getroffen. Auch früher schon gab es immer mal wieder solche besonderen, schmerzlichen, einprägsamen Ereignisse aus verschiedensten Anlässen. Heute aber gehören solche Dissonanzen zum Alltag. Sie sind ein Massenphänomen geworden. In jedem Augenblick können sie ohne jede Vorwarnung in Beziehungen einschlagen wie ein Blitz. Auffällig oft passiert dies oft bei Diskussionen über die großen gesellschaftlichen Themen unserer Zeit. Migration, Rassismus, Klima, Corona, Geschlechtergerechtigkeit. Die Sprünge über die Gräben gelingen nicht mehr. Sie scheitern an der Unversöhnlichkeit der Positionen. Wir nennen das Spaltung und bleiben ratlos.
Diese Unversöhnlichkeit scheint auf den ersten, neutralen Blick von außen oft als eine beidseitige. Jeder wirft dem anderen Faktenresistenz, Dummheit und Böswilligkeit vor. Oft mit verblüffend ähnlicher Wortwahl. Bei genaueren Hinsehen aber zeigt sich, dass zumeist einer der Kontrahenten durchaus Brücken zu bauen beabsichtigt. Er will reden, gehört werden, zuhören, Fragen stellen, abwägen. Das Gegenüber aber lehnt schon beim ersten Verdacht einer aufkommenden abweichenden Position genau diesen Versuch ab. Er blockiert die Verständigung. „Darüber brauchen wir nicht reden!“ „Du willst doch nicht behaupten, dass sich DIE Wissenschaft irrt!“ „Lass mich doch in Ruhe mit deinen…!“ „Spinner, Schwurbler, Leugner…!“ Man könnte fortfahren…
Bei solchen, ansonsten durchaus eloquenten Gesprächspartnern, könnte noch mehr ins Auge fallen. Gesichtsausdruck, Gestik, Körpersprache gleichen sich erstaunlich oft. Das zwischen Mitleid und Arroganz changierende Grinsen, das Wegsehen, das Abwinken, das Zurücklehnen. Die mühsam unterdrückte aufsteigende Wut. Der bessere Mensch fühlt sich überlegen, er ist sich seiner gewiss, er fühlt sich einer Gemeinschaft zugehörig, er ist #mehr und er nennt seine gefühlte Vielheit nicht umsonst genau so. Er muss sich daher nicht mit Zielkonflikten befassen, er muss keine Meinungen, Daten, Widersprüche zur Kenntnis nehmen, er muss sich nicht mit Stoffen befassen, die im Verdacht stehen, die längst feststehende Gewissheit in Frage zu stellen. Denn das haben ja bereits andere, zweifellos kompetente bereits für sie getan. Das Ziel ist erreicht. Das Weltbild ist fertig. Es ist unverrückbar. Außerhalb dessen stehen lediglich die Leugner, mit denen zu beschäftigen sich grundsätzlich nicht mehr lohnt.
Die spontanen Ausraster, wenn etwas nicht nach gängigen Mustern abläuft, das wütende Aufstampfen, Abbrechen, Wegrennen ist etwas was wir sehr gut kennen. Von Kindern nämlich, bei denen das Schwarz-Weiße, Gut-Böse, das Undifferenzierte aus den Märchen einen völlig normalen Entwicklungsschritt darstellt. Und weiteres noch - der Glauben an höhere Instanzen, denen unbedingt gefolgt wird, an die man sich bindet. Erst später im Erwachsenwerden verschwinden solche Abstraktionen und machen Platz für das Erkennen und Aushalten von Zielkonflikten, Widersprüchen und die Demut vor alldem, das sich dem menschlichen Zugriff entzieht. Das kindische Verhalten, was wir bei vielen Erwachsenen sehen, ist das kindliche Verhalten von Menschen, die nie zum Erwachsenen herangereift sind.
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