2023-04-27 11:08:13
Donnerstag, 27.04.2023, Kindheitserinnerung
Ich erinnere mich an eine Geschichte aus meiner Kindheit:
Ich war vermutlich noch keine 5 Jahre alt, als ich eines Tages zufällig bei meinem Nachbarn vorbei kam.
Mehrere Männer und einige Kinder aus der Nachbarschaft standen um eine große Zinkwanne herum. Zwei bis 3 Männer brachten ein Schwein daher, welches laut quiekte und kräftig zappelte. Es wurde mit viel Anstrengung über den Rand der Wanne gelegt und mit einem schnellen Schnitt wurde die Halsschlagader aufgeschlitzt.
Das dunkelrote Blut schoss aus der Wunde in die Wanne und das Zappeln und Quieken wurde schwächer und leiser bis es ganz verstummte.
Das Schwein war tot.
Für mich, der so etwas das erste Mal vollkommen unvorbereitet erlebte, war dies ein sehr erschütternder Moment, den es einzuordnen galt.
Angst, Mitleid und Entsetzen waren meine erste Reaktion.
Dann schaute ich jedoch zu den umstehenden Erwachsenen. Ihre Mienen und Körpersprachen signalisierten Entwarnung. Ja, sogar Begeisterung und Freude.
Dies beruhigte mich ungemein.
Zunächst verlor ich meine Angst und Unsicherheit. Mir passierte hier also nichts. Es ging nur um das Schwein. Und dass man das Schwein schlachtete, war kein Unglück, welches man eventuell noch verhindern sollte, sondern eine bewusste und beabsichtigte Aktion. Es war ganz offensichtlich gut und richtig, was hier geschah.
Und nachdem ich meine Sicherheit wiedergefunden hatte, stellte sich sogar auch Freude und Begeisterung bei mir ein, wie bei den andern...
Ich hatte also gelernt, dass es eine ethisch-moralische Grenze zwischen der Behandlung von Menschen und Schweinen gab. Sie war nicht zwingend naturgegeben, sie wurde in mir angelegt, von den Erwachsenen meiner Gesellschaft.
1933-45 wurde eine ähnliche Grenze in den Köpfen der Menschen angelegt zwischen Ariern und Nichtariern.
Alphatierchen der Gesellschaft grenzten Nichtarier aus und demonstrierten, dass deren Misshandlung und Abschlachten OK und normal oder sogar notwendig waren.
Und die Menschen lernten das. Es wurde in ihnen angelegt.
Es wurde in den Köpfen eine ethisch-moralische Grenze angelegt, vermutlich so "ähnlich" wie bei mir damals als Kind gegenüber dem Schwein.
Es gibt somit offensichtlich keine absolute Grenze was ethisch und moralisch korrekt ist.
Ethik und Moral sind, aus dieser Geschichte ableitend, somit eine Frage der Erkenntnis von Gut und Richtig unter Berücksichtigung des Umfangs der Gruppe für die man sich als Mitglied fühlt. Gruppe der Menschen braucht Essen. Gruppe der Schweine ist Futter.
Ein Kind oder ein kindlicher Verstand bzw. eine kindliche Seele ist angewiesen auf die Vorgaben der Älteren bzw. der Masse.
Für ein Kind ist es (denken ich) normal, dass es sich mehr oder weniger stark an den Einstellungen der Eltern und Erwachsenen orientiert, was offensichtlich normal, gut und richtig ist.
Aber ein ethisch-moralisch gereifter Mensch sollte über dieses kindliche "Nachäffen" hinaus in der Lage sein, eine Situation aufgrund höherer ethisch-moralischer Erkenntnis auch selbständig und folglich unabhängig von der Masse einordnen zu können.
Das kann er aber eben nur, wenn er sich tatsächlich die Erfahrungen und Lektionen der Vergangenheit bewusst macht (z.B. 33-45) und ernst nimmt und ständig und selbständig überprüft, ob die gesellschaftlich angelegte ethisch-moralische Grenze noch den Erkenntnissen aus der Geschichte entspricht.
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Ich schreibe diese Geschichte und Überlegungen, weil ich mir vorstelle, wie wohl die "Schlafschafe" auf diese gewaltige und erschütternde Nachricht von Naomi Wolf reagieren werden.
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