2022-04-20 23:31:01
„Melzer: In einem anderen Fall ging es um einen Mann, der in Anwesenheit einer Gruppe von Polizisten auf einem Platz friedlich aus dem Grundgesetz vorlas und danach in aller Ruhe mit dem Fahrrad wegfahren wollte. Ohne jede Vorwarnung kam ein Polizist von hinten angerannt, schlug ihm den Arm ins Genick und warf ihn brutal zu Boden. Mir gegenüber erklärte die Bundesregierung diese Gewaltanwendung für gerechtfertigt, da der Mann mit seiner Rede weitere Demonstrationen hätte provozieren können.
WELT: Wie sehen Sie das?
Melzer: Diese Aktion war eindeutig unzulässig. Menschen auf den Boden zu werfen, ist gefährlich und demütigend. Das darf man nur, wenn es wirklich notwendig und verhältnismäßig ist. Die Wahrnehmung der deutschen Behörden ist hier sehr verzerrt.
WELT: In einem weiteren Fall, der sich am 01. August 2021 mittags in der Berliner Suarezstraße zugetragen hat, liegt ein Mann gefesselt auf dem Boden, er ist blutüberströmt und regungslos. Er soll zuvor versucht haben, einen Beamten davon abzuhalten, einen anderen Demonstranten zu schlagen. Nun kniet ein Polizist auf ihm und prügelt mit der Faust auf ihn ein. Schließlich wird es anscheinend sogar seinen Kollegen zu viel und sie zerren ihn weg. Der Berliner Innensenator erklärte ein paar Tage später, „dass nicht alles so war, wie es aussieht“. Die Videos hätten beispielsweise nicht gezeigt, dass der Festgenommene versuche, den Beamten in den Oberschenkel zu beißen.
Melzer: Mir wurde dieser Rechtfertigungsversuch nicht mitgeteilt. Er wirkt angesichts der dicken Krawalluniform der Polizisten unglaubwürdig und stimmt auch nicht mit den im Video sichtbaren Bewegungsabläufen überein. Selbst wenn es so gewesen wäre, hätte der Polizist den Biss zwar abwehren dürfen, etwa indem er das Bein wegschiebt oder einen Knüppel dazwischen hält. Doch stattdessen wurde dieser Mann, der sich bereits in Polizeigewahrsam befand, offenbar bewusstlos geschlagen, wofür es schlicht keine Rechtfertigung gibt. Polizeiliche Selbstjustiz und Körperstrafen sind auch gegen angebliche Gewalttäter nicht zulässig.
…
Melzer: Hier wird offenbar mit zweierlei Maß gemessen. Bei Polizeigewalt besteht eine große Diskrepanz zwischen den normativen Ambitionen der deutschen Rechtsordnung und deren Umsetzung durch die Behörden. Insgesamt vermitteln die offiziellen Statistiken den Eindruck von De-facto-Straflosigkeit durch Verfahrensverschleppung. Denn wenn es überhaupt zu Verfahren gegen Polizeibeamte kommt, bleiben diese oft monate- oder jahrelang irgendwo hängig und werden dann sang- und klanglos eingestellt, angeblich aus Beweismangel.
Gleichzeitig sind die Behörden aber stolz darauf, dass sie Teilnehmer an verbotenen Versammlungen oft innerhalb von 24 Stunden verurteilen können. Diese Ungleichbehandlung ist nicht zu rechtfertigen, insbesondere wenn die Gewaltexzesse der Beamten und deren Identifikationsnummern auf Video festgehalten sind. Da die Polizei über klare Handlungsvorgaben und Befehlsketten verfügt, müsste es eigentlich einfacher sein, fehlbare Beamten zur Rechenschaft zu ziehen als Demonstranten, die oft aus ganz verschiedenen Beweggründen vor Ort sind. Berlin, Nordrhein-Westfalen, Bayern und Hessen konnten mir die angefragten Zahlen gar nicht erst liefern, schrieben aber gleichzeitig, dass jede Gewaltanwendung der Polizei systematisch untersucht werde. Aber wie können sie das behaupten, wenn sie nicht einmal Statistiken dazu haben?“
https://www.welt.de/politik/deutschland/plus238239153/Polizeigewalt-auf-Corona-Demos-Andernfalls-ist-man-bloss-eine-Schoenwetter-Demokratie.html
250 views20:31