2022-07-16 12:21:57
Die rationalistische Pseudognosis unserer Zeit erscheint
wie der Bumerang der theologischen Antignosis der ersten
Jahrhunderte; und diese rächende Auswirkung einer weit
zurückliegenden Ursache kommt nicht nur von außen, von der
ungläubigen Welt, sie vollzieht sich im Schoß der Kirche selbst.
Tatsächlich verbinden sich hier zwei Ursachen: auf der einen
Seite der Hass auf die Gnosis und auf der anderen Seite der
Durst auf Neuerung und das Verlangen nach Veränderung; dies
sind die bezeichnenden Züge der genialischen und abenteuer.
lustigen, in ihrer krassen Auswirkung sogar luziferischen,
Geisteshaltung des Abendlandes. Diese Geisteshaltung hat sich
auf eine zugleich vorsehungsgemäße und unheilvolle Weise mit
dem verbunden, was wir den christlichen »Neuerungsdrang«
nennen könnten, und mittelbarer sogar mit dem jüdischen
Messianismus.
Wie dem auch sei, es sind nicht in erster Linie die meta-
physische Intelligenz und auch nicht die Beschaulichkeit, die
den Europäern fehlt, vielmehr ist es der Sinn für das Gleich-
bleibende, für das Prinzip der Unwandelbarkeit, kurz für
den »unbewegten Beweger«. Die »Weltlichkeit« der Abend-
länder zeigt sich in ihrem übersteigerten Erfindungsdrang
- der Abendländer verspürt immer das Bedürfnis, »das zu
verbrennen, was er angebetet hat« - und in ihrer kulturellen
Unbeständigkeit, während die Weltlichkeit der Morgenländer
nur in ihrem Übermaß an gewöhnlichen Leidenschaften des
Körpers und der Seele besteht, was nicht wenig heißt, wenn
man bedenkt, dass die Leidenschaften das Erkenntnisver-
mögen vernebeln, unabhängig vom ethnischen Umfeld, in dem
sie auftauchen, und unabhängig von den natürlichen Gaben des
Einzelnen oder der Gemeinschaft.
Man wird hier vielleicht geltend machen, dass der
mangelnde Sinn für das Unwandelbare oder die mangelnde
Würdigung gleichbleibender Werte und Wirkungsweisen
einen entsprechend mangelnden Sinn für Metaphysik beweist;
dies trifft zu für die Mehrheit der Menschen - und zwar auf
zwangsläufig verhältnismäßige Weise -, schließt aber keines-
falls die Anwesenheit der Metaphysik und der Beschaulichkeit
aus; es wäre darum falsch zu folgern, dass in dieser Hinsicht
das Abendland nichts habe und alles vom Morgenland lernen
müsse. Es wäre allerdings von größtem Nutzen für die abend-
ländische Elite, wenn sie sich von der vedantischen Lehre an-
regen lassen und tiefer in den Schlüsselbegriff der Màyà in
divinis eindringen würde, auch wenn sich dieser Begriff ge-
legentlich bei einem Meister Eckhart und zweifellos auch, mehr
oder weniger beiläufig, bei einigen anderen Verfassern findet;
letztlich aber hängt die Geistigkeit nicht völlig von diesem Be-
griff ab, wie es der Thomismus und der vishnuitische Vedânta
beweisen. Grosso modo besitzt das Abendland alles Wesent-
liche, aber es will nichts davon wissen, und darin besteht sein
Drama und seine Sinnlosigkeit.
Frithjof Schuon »Metaphysik und Esoterik im Überblick«
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