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„Ich liebe Katastrophen, weil sie die Angst der Menschen schla | Neues Zeitalter

„Ich liebe Katastrophen, weil sie die Angst der Menschen schlagartig bloßlegen. Und alles erstarren lassen. Die Welt zum Stillstand bringen. Die kaputte Zufriedenheit, das Vertrauen auf Staat und Ordnungskräfte, das tägliche Rollenspiel, der roboterhafte Aktionismus – all das ist plötzlich nicht mehr wichtig. Von einer Sekunde zur anderen denken sie an ihr Leben, ihr Über-Leben, und – bei Sturmkatastrophen und Überschwemmungen – sogar an den Tod, was noch fesselnder ist. Zum ersten Mal geht es um die wesentlichen Dinge. Ums Sein. Ums Dasein. Was sie jahrelang auf ihren Sesselfurzersofas im Fernsehen genossen haben, ist nun Realität geworden. Jeder verkörpert auf einmal selbst eine Rolle im großen Thriller. Und hofft, entgegen seiner Gewohnheit, daß diesmal nicht allzu viele Special Effects zum Einsatz kommen. Wie schön war noch der Vormittag. Man fuhr in sein Arbeitsnest und wieder zurück, sah sich seine Soap Opera an, studierte die Bundesliga-Ergebnisse, löffelte sein Joghurt mit den rechtsdrehenden Kulturen, bestellte sich im Internet einen Schuhlöffel mit Hip-Hop-Klingelton, ging vors Haus, pickte ein Bonbonpapier vom Gehsteig und trug es zum Mülleimer, fragte sich dabei, ob der Zaun nicht einen Anstrich vertragen könnte, grüßte ein paar vorbeihumpelnde Nordic Walker, und so verging der Tag, und es war einer von vielen. Und dann bekommt das Leben plötzlich Handlung. Schnell rein in die Künstlergarderobe und raus aus den Einfaltspinsel-Klamotten, wo war noch mal das Dramatik-Set, komplett mit Tränen, Händeringen und zitternden Gliedern? Dann raus aus der Garderobe: Oh Scheiße, das ist ja mein Leben. Also jammern. Was, wenn der Sturm mein Haus verwüstet? Zahlt so etwas die Versicherung? Was, wenn ich im Blitzeis ausrutsche und für den Rest meines Lebens querschnittgelähmt bleibe? Gack, gack, gack. Endlich einmal Handlung auf dem Hühnerhof. Ich liebe Katastrophen. Weil Katastrophen Antidote gegen die tägliche Plattheit sind. Keiner nimmt sich mehr Zeit, über verschüttete Milch und verspätete Züge zu heulen, keine Industrie hat mehr Interesse daran, nicht-existente Krankheiten zu erfinden, nur um authentische Opfer-Illusionen für die vielen Rollenspieler bereitzustellen, die ihre eigene Rolle nie fanden. Der schwarze Koffer mit den Silbersternen und den Zauber-Gimmicks, wie überflüssig ist er plötzlich. Keine Presse hält es mehr für nötig, die verbale Flatulenz von Staatsoberhäuptern zu Schlagzeilen aufzumotzen. Wie scheißegal ist es dem Mob auf einmal, wer Popstar des Monats oder neuer Trainer des FC Bayern München wird.
Es ist wie in Millets Gemälde „Das Angelus-Läuten“, wo Pflug und Harke ruhen, als gäbe es keine Zeit mehr, nur weil fünf Uhr abends ist und die mahnende Glocke läutet. Ecce, ancilla Domini. Fiat mihi secundum verbum Tuum. Wie schön. Wie still. Wie unverfälscht.“
—Oliver Fehn
Gesammelte Essays, 2008

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