2022-08-02 10:15:39
UnordnungLeslie Kaplan In jenem Frühjahr kam es zu einer Reihe von ungewöhnlichen Verbrechen, die in der Presse schnell als »Verbrechen des neunzehnten Jahrhunderts« bezeichnet wurden. Die Täter waren Ausgebeutete aller Art: Angestellte, Lohnarbeiter, Landarbeiter, verschiedene Dienstboten, verschiedene Elendsgestalten. Und diejenigen, die ermordet wurden, waren Chefs, Chefinnen, Leute, für die »es nur darum ging etwas zu« – nur was zu? Dies oder jenes zu tun, zu studieren, anzukommen, einen schönen Anzug zu kaufen, sich anzustrengen die Straße zu überqueren etc. Offensichtlich teilte sich Frankreich in zwei Hälften: diejenigen, die für die Verbrecher waren, und diejenigen, die für die Opfer waren. Aber Fakt ist, dass die Bewegung nicht aufhörte, sich weiterentwickelte, immer größer wurde. Fast jeden Tag eine neue Geschichte, manchmal sogar mehrere. In den großen Städten, auf dem Land, in jedem Moment passierte etwas. Einigen der Mörder gelang es zu fliehen. Die meisten wurden jedoch erwischt und bekannten sich freimütig zu ihrem Verbrechen. Man sah sie sogar lachen, sich lustig machen, mehr oder weniger lustige Witze reißen. Kurz gesagt, es war eine verkehrte Welt. Oder besser gesagt, es war ein Rückschritt in ein selbstverständlich imaginäres 19. Jahrhundert. Doch schließlich war die Klassenlinie so deutlich zu erkennen, dass man nicht umhin konnte, daran zu denken. Und deshalb hatte der Begriff »Verbrechen des 19. Jahrhunderts«, geprägt von einem Journalisten, einem Kolumnisten einer großen Regionalzeitung, das Rennen gemacht und wurde überall aufgegriffen. Unverständlich blieb, warum all diese Verbrechen zur selben Zeit stattfanden, warum diese Gleichzeitigkeit. Zuerst im März, dann im April. Gab es irgendwelche Warnsignale? Man suchte, aber sah und fand nichts.
Aber an der Wildheit der Verbrechen gab es keinen Zweifel. Sie waren nicht wild wie die Verbrechen der Papin-Schwestern, dieser Hausmädchen, die ihre Herrinnen ermordet und verstümmelt, ihnen die Augen ausgekratzt hatten, auch wenn es einmal eine junge Frau gegeben hatte, die bei ihrer Verhaftung geseufzt hatte: »Ah, die Papin-Schwestern …«. Nein, diese Verbrechen waren nicht wie … sondern wild … ja, wild … jäh, rasch, unmotiviert, nein, vielleicht nicht unmotiviert, aber dennoch seltsam, unpersönlich, regelrecht verrückt. Ein vorbildlicher Angestellter, fünfundzwanzig Jahre bei einer Bank, der plötzlich einen Tresor auf den Kopf seines Direktors wirft. Ein portugiesischer Mechaniker, der seinen Chef in der Garage mit herumliegenden Drähten erdrosselt. Ein Meisterchauffeur, der den von ihm gefahrenen CEO an die Wand schickt (er selbst springt vorher ab). Auch Frauen wurden nicht verschont. Unzählige Fälle von vergiftenden Krankenschwestern, so dass bald die Spritzen von reichen oder gar wohlhabenden Menschen nur noch im Familienkreis verabreicht wurden. Eine Metzgereiangestellte setzte das Messer gegen ihre Chefin ein, eine Fleischergesellin benutzte ihre Schürze. Überall, von Nord nach Süd, von Ost nach West, in Paris und in der Provinz, in den Städten, Dörfern und auf dem Land, herrschte ein Sturm des Wahnsinns.
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Eine sehr schöne, magersüchtige junge Verkäuferin, die kaum dem Teenageralter entwachsen war, arbeitete in der Make-up-Abteilung des Monoprix Saint-Michel. Lippenstifte und Grundierungen, Rimmel, Cremes und Rouge, Puder und Glitzer. Lacke. Nagellack. Sie wohnte mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter in Garges-lès-Gonesse und nahm für die Anreise den Bus und den RER. Ihr Chef, der Leiter des Bereichs »Frauen« im Geschäft, mochte sie und nannte sie »mein kleiner Floh«. Er wurde von einem Hocker erschlagen, einem niedrigen, schweren Gegenstand mit Metallbeinen. Die Presse berichtete über die Worte der Großmutter, die am Telefon ausrief: »Na so was«.
Lest heute ausnahmsweise Prosa in der MagMa:
https://netzwerk-linker-widerstand.ru/magma/2022/08/unordnung/
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