2021-10-12 10:45:51
Öl und Essig
Ich weiß wirklich nicht, wie Frau M. es macht. Sie hat acht Kinder und noch keins ist in dem Alter, ihr große Dienste zu leisten. Auch ist sie eine sehr schwächliche Frau, die Arbeit muss ihr gewiss recht schwer fallen, und doch hörte ich erst vor kurzem ihren Mann sagen: „Mein Haus ist ein wahres Paradies.“
Kürzlich besuchte ich sie im Vorbeigehen. Ihre Wohnung war wie immer schön sauber und alles in guter Ordnung. Die Mutter saß im Zimmer, umgeben von ihren Kindern und besserte deren Kleider aus; alle schienen so überaus glücklich und zufrieden zu sein, deshalb fragte ich sie: „Bitte sagen Sie mir, wie geht das zu, dass Sie bei der vielen Arbeit und Mühe doch immer so froh und glücklich sind und so zufrieden? Das war mir schon oft ein Rätsel.“
„O, meine Liebe, wenn Sie älter werden, dann werden Sie es auch
verstehen lernen, dass ein Löffel Öl weit besser ist als ein Liter Essig.“
Sie wollte mir keine nähere Erklärung geben. Aber als ich ein wenig bei ihr blieb und ihrer sanften Stimme und ihren lieblichen Worten zuhörte, da verstand ich, was sie meinte. Die Worte kamen mir in den Sinn, welche der Vater am Abend vorher aus der Bibel uns vorgelesen hatte: „Eine gelinde Antwort stillet den Zorn: aber ein hartes Wort richtet Grimm an. Der Weisen Zunge macht die Lehre lieblich.“ – Oft hatte mir die Mutter gesagt: „Kind, die Zunge ist deine größte Feindin und wird dir noch gar manchen Kummer bereiten. Oft wenn du erregt bist und kannst die Zunge nicht im
Zum halten, fahren die Worte dahin, und du kannst sie nicht wieder zurücknehmen.“
Die wenigen Worte der Frau M. wurden mir unvergesslich. „Ein Löffel Öl ist weit besser als ein Liter Essig.“ – Als bald darauf die
Sonntagsschullehrerin uns besuchte, sagte nachher die Mutter: „Siehst du jetzt, mein liebes Kind, auch sie versteht mit Öl umzugehen; ihre lieblichen Reden waren wie Öl auf eine schmerzende Wunde. Sie sprach nicht schnell, noch viel, aber sie wusste, was sie sagen sollte; ihre Worte waren so sanft, lieblich und aufmunternd und sie gereichten zum Segen.“
Es ist wahr, in dieser unruhigen Welt bedarf man ein großes Maß Öl, um die tobenden Wogen des stürmischen Herzens zu stillen. Dieses Öl aber erhält man bei dem, der gesagt hat: „Lernet von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig.“
Der Missionsbote
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